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Bedürfnisorientierte Erziehung für Väter – warum sie auch für uns so wichtig ist

Bei der bedürfnisorientierten Erziehung – im Englischen „Attachment Parenting“ genannt – geht es ursprünglich um den Aufbau einer engen Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern. Es geht um die emotionale und körperliche Nähe und Bedürfnisse, die wahrgenommen und genährt werden sollen.

Keine Umarmung, kein Tragen ist für ein Baby zu viel. Babys sollen „verwöhnt“ werden mit Kuscheleinheiten im Familienbett und dem Tragen im Tragetuch. Die Bedürfnisse von Kleinkindern und älteren Kinder sollen gehört, beachtet und nach Möglichkeit erfüllt werden.

Damit steht die bedürfnisorientierte Beziehung, kurz BO, im klaren Gegensatz zu autoritären Erziehungsstilen, die in vorherigen Generationen populär waren. Es gibt Gegner und Befürworter dieses Erziehungsstils. Gegner meinen, Kinder werden durch eine bedürfnisorientierte Erziehung „verwöhnt und verhätschelt“, der Ansatz wäre zu komplex und im Alltag nicht zu stemmen.

Befürworter sagen, ein bindungsorientierter Erziehungsstil hilft Kindern, zu selbstbewussteren Erwachsenen heranzuwachsen. 

Die sichere Bindung zu den Eltern und das starke Urvertrauen machen das möglich. Sind Kinder sicher gebunden¹ und wissen, dass die Eltern uneingeschränkt hinter ihnen stehen, können sie jederzeit zu ihrem „sicheren Hafen“ (den Eltern) zurückkehren.

Woher kommt Attachment Parenting?

Attachment Parenting (Deutsch: Bindungs- oder Bedürfnisorientierte Erziehung) ist kein neues Konzept. Den Ursprung in der heutigen Form fand die BO in den 1980er-Jahren in den USA. Die Grundelemente wurden in dem 1982 veröffentlichen Buch „Creative Parenting“ von William Sears beschrieben. Damals ging es vor allem um eine enge Mutter-Kind-Beziehung, die ab Geburt gefördert werden sollte. In späteren Publikationen fasste Sears die Grundlagen des Attachment Parentings in den „7 Baby-Bs“ zusammen.

Die 7 Baby-Bs nach William Sears aus dem Buch „Attachment Parenting“ (2001)²:

  1. Körper- und Augenkontakt zwischen Mutter und Kind sollten sofort nach der Geburt erfolgen („Birth bonding“).
  2. Das Baby sollte nach Möglichkeit gestillt werden („Breastfeeding).
  3. Das Baby sollte so oft wie möglich am Körper getragen werden („Babywearing“).
  4. Eltern sollten in der Nähe des Babys schlafen („Bedding close to baby“).
  5. Das Weinen des Babys sollte immer beachtet werden („Belief in the language value of your baby’s cry“).
  6. Schlaftraining sollte abgelehnt werden („Beware of baby trainers“).
  7. Die Bedürfnisse von Mutter und Kind sollten im Gleichgewicht sein („Balance“).

Viele der Baby-B’s sind intuitiv. Unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, erfüllten mehrere der von Sears beschriebenen Verhaltensweisen. In Deutschland und in anderen westlichen Ländern wurde jedoch lange ein ganz anderer Umgang mit Babys propagiert.

Erziehungsratgeber wie „Die Mutter und ihr erstes Kind“ prägten den Erziehungsstil in Deutschland. Bei der ersten Ausgabe des Buches, das 1934 erschien, rat die Autorin Dr. Johanna Haarer einen möglichst distanzierten, aus heutiger Sicht grausamen Umgang mit Säuglingen.

Neugeborene sollten zwar gestillt, aber nicht häufig getragen werden. Stillen diente lediglich der Nahrungsaufnahme – nicht etwa zum Näheaufbau oder zur Beruhigung. Ältere Babys sollten nachts nicht gefüttert, sondern schreien gelassen werden.

Bindungsorientierte Erziehung = Laissez-faire?

Bindungsorientierte Erziehung wird von Kritikern immer wieder mit der Laissez-faire Erziehung gleichgesetzt. Bei diesem Erziehungsstil gibt es keine Regeln. Die Eltern verhalten sich passiv und greifen selbst in Konfliktsituationen nicht ein. Die Bedürfnis- oder Bindungsorientierte Erziehung grenzt sich jedoch klar von Laissez-faire ab.

Bei der Bedürfnisorientierten Erziehung geht es um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Kinder werden begleitet, sie werden nicht regellos sich selbst überlassen. Ihre Bedürfnisse und Grenzen werden wahrgenommen, geachtet und nach Möglichkeit erfüllt.

Doch auch die Eltern haben Bedürfnisse und Grenzen, die gewahrt werden müssen. Bei BO sollten idealerweise die Bedürfnisse und Grenzen aller Familienmitglieder geachtet werden. Das wird nicht selten übersehen, gerade in Phasen der Überforderung und dem Autopilot-Modus. Eltern müssen in Kontakt mit ihren Kindern treten, das Verhalten der Kinder ohne Bewertung hinterfragen, emphatisch reagieren und sich selbst reflektieren. Gerade immer wieder dazu lernen, davon auszugehen, dass alles Verhalten seinen Sinn hat, scheint mir hier wesentlich zu sein.

Wünsche und Bedürfnisse – wie die bedürfnisorientierte Beziehung die Grenzen aller wahrt

Bei der bedürfnisorientierten Erziehung ist es wichtig, im Gleichgewicht zu bleiben, auch und vielleicht besonders als Vater. Wer alle Bedürfnisse und Wünsche seiner Kinder erfüllt, läuft Gefahr, seine eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu übergehen. Das passiert häufig. Wir alle wollen nichts falsch machen. Wir möchten unseren Kindern uneingeschränkte Sicherheit bieten und immer für sie da sein.

Das Resultat ist jedoch, dass Mütter und Väter schnell an ihre Grenzen kommen, genervt, gestresst oder wütend reagieren. Idealerweise sollten bei einem bedürfnisorientierten Erziehungsstil alle Bedürfnisse beachtet werden – auch die der Eltern. Nicht zuletzt Väter haben immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn sie scheinbar nicht genügend ihre eigenen Bedürfnisse zurückstecken. Unsere Verantwortung als Eltern ist es, möglichst alle Bedürfnisse anzuerkennen, auch wenn ich sie nicht immer erfüllen kann. Eltern dürfen und sollen authentisch reagieren. Sie dürfen sagen „Das macht mich traurig“ oder „Ich möchte das nicht!“ und nach Möglichkeiten suchen, die für alle tragbar sind. Gerade persönliche Grenzen, die liebevoll und klar vermittelt und gehalten werden, sind hier aus meiner Erfahrung entscheidend.

Was hier so einfach klingt, ist in der Praxis am Anfang nicht einfach. In meinen Seminaren gebe ich dafür Unterstützung.

Oft wird BO auch falsch verstanden

Es müssen nicht alle Wünsche des Kindes erfüllt werden. Viel mehr müssen Eltern herausfinden, ob ein Bedürfnis hinter dem Wunsch des Sohnes oder der Tochter steckt. Vielleicht steht Hunger hinter dem Wunsch nach dem dritten Eis, vielleicht auch Anerkennung oder Aufmerksamkeit. Können Wünsche nicht erfüllt werden, sollten Eltern den entstehenden Frust begleiten, ohne das Gefühl negativ zu bewerten, zu schimpfen oder zu strafen. Oft ist es für ein Kind hilfreich, zu hören, dass wir das Bedürfnis gesehen haben, auch wenn wir es nicht erfüllen können.

Bedürfnisorientierte Erziehung – hier liegen die Herausforderungen

Während viele Eltern heute zum Glück schon intuitiv sehr liebevoll auf die Bedürfnisse ihres Babys eingehen, wird das ab dem Kleinkindalter schwieriger. Dann kommen die „guten Ratschläge“ von Verwandten und Passanten.

Vielleicht hast Du solche oder ähnliche Sätze selbst schon einmal gehört:

„Lass das Kind schreien, das kräftigt die Lungen.“
„Du musst Dein Kind auch mal bocken lassen.“
„Kinder müssen folgen!“
„Der tanzt euch doch auf der Nase herum.“
„Sie schläft noch in eurem Bett? So wird sie nie selbstständig!“

Gepaart mit unseren eigenen Glaubenssätzen, verunsichern diese Kommentare. Vor allem dann, wenn das Kind sich mitten im Supermarkt auf den Boden wirft oder bei der Familienfeier sich bockig und unhöflich verhält. Die Umwelt sieht sich im Recht, das die Bindungsorientierte Erziehung das Kind „verzieht“.

Ich weiß aus eigener Erfahrung: Der Weg der Bedürfnisorientierten Erziehung ist nicht der einfachste.

Kinder dürfen bei Familienentscheidungen mitreden. Kinder dürfen Wünsche und Bedürfnisse äußern. Sie schlafen jahrelang im Familienbett. Und: Kinder müssen nicht uneingeschränkt folgen und dürfen ihre Gefühle zeigen – ohne dafür bestraft, geschimpft oder ignoriert zu werden. Das alles kann sehr herausfordernd und kräftezehrend sein – vor allem wenn Du als Kind vielleicht selbst ganz anders aufgewachsen bist.

Attachement-Parenting-Papa – was Du Dir vielleicht selbst von Deinem Vater gewünscht hättest

Aus meiner Arbeit mit Vätern weiß ich, dass die Bindungsorientierte Erziehung gerade uns Männern schwerfällt. Jungs werden eher dazu sozialisiert, keine Traurigkeit zu zeigen oder Schwächen zuzugeben, für alles Lösungen parat zu haben. „Stell Dich nicht so an“ oder „Du bist doch kein Baby mehr“ waren und sind heute noch häufige Antworten auf die Gefühle der Kleinen. Bei der Bindungsorientierten Erziehung sollen Eltern jedoch gerade diese Gefühle wahrnehmen, benennen und begleiten. Alle Bedürfnisse sollen ernst genommen werden.

Und hier liegt die große Herausforderung:

Wenn Du in der eigenen Kindheit diese Gefühle nie ausleben durftest, ist das Aushalten und Begleiten der Gefühle beim eigenen Kind nicht einfach zu bewältigen. Es ist möglich, dass Du mit einer heftigen Ablehnung oder Wut reagierst, die aus dem Nichts zu kommen scheint.

Doch genau das ist der Punkt: Deine Reaktion auf die negativen Gefühle Deiner Kinder kommt nicht aus dem Nichts. Sie rührt aus der eigenen Kindheit. Es sind Triggerpunkte, die aus Deinem Inneren ins Äußere gelangen und unreflektiert Dein geliebtes Kind treffen.

Die Entscheidung liegt bei Dir:

Reagierst Du genau so auf Dein Kind, wie Deine Eltern auf Dich reagierten? Lehnst Du die Gefühle Deines Kindes ab, ignorierst oder bestrafst es dafür? Oder hältst Du inne, reflektierst und reagierst so, wie Du es Dir als Kind vielleicht sehnlichst gewünscht hättest? Empathisch und liebevoll?

Einen anderen Weg als den gelernten einzuschlagen, kann herausfordernd sein. Das heißt, Du musst lernen, achtsam mit Dir selbst und Deinen Kindern umzugehen, du musst reflektieren lernen und deine eigenen Gefühle wahrnehmen. Nicht von heute auf morgen, es reicht, nach und nach Schritte in eine achtsamere Richtung zu gehen.

Aber dieser Weg lohnt sich: Er ist lehrreich, heilsam und führt zu einer engen Beziehung mit Deinem Kind.

In meinen Coachings und Seminaren zeige ich Dir, wie Du den Alltag mit Deinen Kindern entspannter und wertschätzender gestalten kannst. Kontaktiere mich gerne für ein kostenloses Erstgespräch mit Deinem persönlichen Anliegen.

Quellen:

¹Vgl. die Bindungstheorie nach Bowlby in „Bindung als sichere Basis. Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie.” (2008) – weitere Informationen zum Beispiel hier.

² The Attachment Parenting Book: A Commonsense Guide to Understanding and Nurturing Your Baby (2001)

Carsten Vonnoh

Systemischer Berater für Väter und Organisationen