Bedürfnisorientierte Erziehung und Frustration: Ein Widerspruch?
Wir leben in einer Welt, in der vieles sofort verfügbar ist. Wenn das Paket nicht am nächsten Tag ankommt, werden wir unruhig. Wenn das Internet ruckelt, steigt unsere Ungeduld. Und wenn unsere Kinder nicht so reagieren, wie wir es uns wünschen, spüren wir eine Welle von Frustration in uns aufsteigen. Doch genau hier beginnt die eigentliche Herausforderung: Frustrationstoleranz ist kein Selbstläufer, sondern eine Fähigkeit, die geformt, gelernt und gepflegt werden muss. Und das beginnt nicht erst bei unseren Kindern – es beginnt bei uns.
Früher war alles einfacher? Ein Blick in die Vergangenheit
Früher hieß es: „Da musst du jetzt durch!“ oder „Reiß dich zusammen!“. Kinder mussten funktionieren. Eltern waren oft nicht da, um Emotionen aufzufangen oder Frustration aufzulösen oder wussten nicht wie. Sie mussten lernen, sich selbst zu beruhigen, weil es keine Alternative gab. Das hat vielen von uns vielleicht Durchhaltevermögen beigebracht, aber es hat auch Narben hinterlassen.
Heute wollen wir es anders machen. Wir wollen auf die Bedürfnisse unserer Kinder eingehen, sie nicht brechen, sondern respektieren und stärken. Wir wollen nicht, dass sie ihre Gefühle unterdrücken, sondern lernen, mit ihnen umzugehen. Auch wenn wir es erst einmal für uns selbst und mit ihnen lernen müssen. Doch genau das stellt uns vor eine neue Herausforderung: Wie finden wir das Gleichgewicht zwischen Verstehen und Fordern? Zwischen Mitgefühl und Klarheit?
Frustrationstoleranz ist ein Geschenk
Frustrationstoleranz bedeutet nicht, Frust zu vermeiden oder schmerzhaft auszuhalten. Es bedeutet, ihn zu verstehen, zu akzeptieren und mit ihm umzugehen. Es ist eine Fähigkeit, die uns durch das Leben trägt. Sie hilft uns, Widerstände zu überwinden, Rückschläge zu verkraften und an Herausforderungen zu wachsen. Wenn wir diese Kompetenz an unsere Kinder weitergeben wollen, dann müssen wir sie zuerst selbst meistern. Denn sie lernen nicht durch Worte, sondern durch unser Vorbild.
Warum es so schwer ist, Frustration auszuhalten
Wir sind es gewohnt, Dinge zu kontrollieren, gelernt, um uns selbst vor Verletzung zu schützen. Doch Kinder lassen sich nicht kontrollieren. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, ihren eigenen Rhythmus, ihre eigene Sicht auf die Welt. Und wenn sie wütend aufstampfen, weil es keine Schokolade gibt, oder sich “trotzig” auf den Boden werfen, weil sie ihren Willen nicht bekommen, dann passiert etwas in uns. Unsere innere Stimme schreit: „Das kann doch nicht sein!“. Wir spüren den Drang, es zu lösen. Sofort.
Doch hier liegt die Chance: Wenn wir diese Momente nutzen, um selbst ruhig zu bleiben, wenn wir unsere eigene Frustration aushalten, dann lehren wir unsere Kinder genau das. Sie lernen durch uns, dass Frust dazugehört, dass es okay ist, sich schlecht zu fühlen, und dass diese Gefühle wieder vergehen.
Frustration als Entwicklungschance begreifen
Wenn ein Kind wütend ist, weil es etwas nicht bekommt, dann ist das nicht nur ein schwieriger Moment – es ist eine Lerngelegenheit. Es lernt gerade, dass nicht alles nach seinem Willen geht. Dass es Grenzen gibt, auch völlig ohne unsere oft unnötigen künstlichen Grenzen. Dass Warten und Aushalten dazu gehört und dass uns das auch nicht immer gut gelingt. All das sind wichtige Erfahrungen, die es stärker machen. Und es braucht uns als Begleiter dabei, nicht als Löser.
Doch Frustrationstoleranz geht weit über die Kindheit hinaus. Sie ist auch für uns als Eltern eine tägliche Herausforderung. Wir wollen Geduld haben, aber manchmal sind wir müde. Wir wollen verständnisvoll sein, aber manchmal reißt uns die eigene Ungeduld mit. Dazu kommt, dass wir sehr wahrscheinlich nicht so viele Menschen an unserer Seite hatten, die uns in unserer emotionalen Regulierung unterstützt haben.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns selbst reflektieren. Warum triggert mich dieses Verhalten gerade so? Welche eigenen Kindheitserfahrungen kommen hier hoch? Kann ich meinem Kind diesen Moment gerade zumuten oder brauche ich selbst eine Pause?
Frustrationstoleranz in der bedürfnisorientierten Erziehung
Bedürfnisorientierung bedeutet nicht, dass Kinder immer bekommen, was sie wollen. Es bedeutet, dass ihre Bedürfnisse gesehen werden – und dass sie lernen, mit Enttäuschung umzugehen. Dass sie nicht nur erfahren, dass Grenzen da sind, sondern auch, dass sie nicht allein sind, wenn sie daran stoßen.
Wir können Frustration nicht aus dem Leben unserer Kinder nehmen. Aber wir können sie begleiten, sie ermutigen, sie bestärken. Und wir können unsere eigene Frustration reflektieren, statt sie an ihnen auszulassen.
Frustrationstoleranz als innere Haltung
Am Ende ist Frustrationstoleranz nicht nur eine Erziehungsaufgabe. Sie ist eine Lebensaufgabe. Sie hilft uns, gelassen zu bleiben, wenn Dinge nicht nach Plan laufen. Sie hilft uns, unseren Kindern ein sicherer Hafen zu sein, auch wenn sie stürmisch sind. Und sie hilft uns, uns selbst mit mehr Geduld und Milde zu begegnen.
Jeder Moment der Frustration ist eine Möglichkeit zu wachsen. Für unsere Kinder. Und für uns.
Carsten Vonnoh begleitet Eltern auf ihrem Weg zu mehr Klarheit, Verbindung und innerer Ruhe. In der Vaterherz® Academy findest du Impulse und Austausch, um Erziehung mit Wärme und Klarheit zu leben.